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Ursula Fehr: abgehoben - erdenschwer

20. Mai 2001 – 11. November 2001

Fehrgross
Ursula Fehr: Ikaride
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Ursula Fehr: Ikariden

Ikariden und Grüne Weiber

Die "Ikariden" sind Zwitterwesen aus Pflanze, Mensch und Flügelgestalt. Wir begegnen «Nachfahren« des Ikarus, die in ihrem unerschütterlichen Freiheitsdrang mit ihren natürlichen und kulturgegebenen Grenzen ringen. Es handelt sich bei den "Ikariden" wohl eher um «weibliche« Entsprechungen des Ikarus, als um seine «männlichen« Nachfolger. Ikarus liess sich von dem grenzenlosen Hochgefühl seiner eigenen Flugkraft dazu verführen, höher und höher in den Himmel zu steigen, bis ihm die Sonnenstrahlen die selbstgebauten Flügel verbrannten. Die Schwingen der "Ikariden" sind dagegen nicht konstruiert wie die Flügel des Ikarus. Sie entwachsen ihren Schultern. Gleichwohl bleiben sie Fremdkörper am eigenen Leibe: Ihre nachtblaue Färbung und ihre besondere Oberflächenstruktur unterscheiden die Flügel von den anderen Partien der Plastiken. Der Materialcharakter des Werkstoffes tritt hier besonders deutlich, metallisch hervor. Anstatt des Wagemutes, frei auf zu fliegen, besitzt "Ikaria" offenbar die Fähigkeit zur Metamorphose zwischen höchst unterschiedlichen «Aggregatzuständen«. In ihrem langgezogenen Leib kann das Wurzelgeflecht in traubenartig hervorquellende Füsse übergehen, zum Strunk eines Baumstamms werden, dem Arme, verästelte Zweige oder Flügel entwachsen und der von einem idealisierten Kopf gekrönt ist. Im Unterschied zu Ikarus bleibt sie sich ihrer irdischen Verfasstheit «bewusst«, ohne deshalb ihre vielfältigen Seiten gänzlich verkümmern zu lassen. In der Formensprache der Ikariden überlagern sich unbehauenes Naturzitat, monströse Fantasmen, geistige Verdichtungen und mythologisierende Symboliken: Anklänge an Francesco Goya, Hieronymus Bosch, Giovanni Giacometti, Louise Bourgeois oder auch Mario Merz verraten, dass westliche Kulturerfahrungen in das Schaffen Ursula Fehrs eingehen: Sie werden wohlüberlegt und unaufdringlich herbeizitiert - nicht experimentell entfaltet oder ausdrücklich kommentiert. Die Disparität gleichermassen wirksamer Einflussfaktoren, zu denen auch die Werke Henri Moores, Barbara Hepworth und Georgia O'Keefe gehören, wird gleichwohl in der organischen Formensprache der Plastiken befriedet. Ikaria, die «Verwandlungskünstlerin« harmonisiert ihre Zerrissenheit zwischen Sehnsucht und Selbstbegrenzung, Körperschwere und gewitzter Fantasie, Befangenheit und Hypersensibilität. Sie findet auf ihrem Wurzelgrund zu einer Balance, die ihr lebbar ist. - Anders als ihr «Bruder« Ikarus setzt sie ihr Gleichgewicht nicht aufs Spiel. Die Geschichte, die Ursula Fehrs Ikariden erzählen, bringen einen Erfahrungsschatz «weiblicher« Biografien zum Ausdruck. Darin sind sie der Erzählung "Cassandra" von Christa Wolf vergleichbar.
In beiden Werken wird eine Geschichtsschreibung, die von «männlichen« Erfahrungen dominiert wird, von «weiblicher« Hand überschrieben. Dabei rücken Deutungsangebote dessen in den Blick, was von uns heute als «weiblich« und «männlich« bezeichnet wird.

Die bereits in den achtziger Jahren entstandenen "Grünen Weiber", die im zweiten Hof des Nordgartens gezeigt werden, haben den Schritt aus sich heraus noch nicht geschafft. Ihre innere Wucht lässt einzelne Körperteile ins Vielfache wuchern. Aufbruchversuche werden zu einer Flucht, die den weiblichen Körper nicht zu bewegen vermag, seine rundlich ruhende Gestalt aber aufbricht und vervielfacht. Den "Grünen Weibern" werden nicht ihre hochfliegenden Pläne und überhöhten Selbsteinschätzungen zum Problem. Vielmehr scheinen ihre vitalen Energien in zählebige Selbstbefangenheit eingebunden zu werden. Es sieht aus, als würde die "Vielbeinige" von schwerer Bürde gedrückt und versuchen, sich seitlich schlingernd zu verschieben. Doch anstatt von der Stelle zu kommen, quellen immer nur wieder neue Beine aus ihrem Leib hervor und wühlen sie an dem Ort ihres Daseins fest. Auch die "Vielarmige" scheitert in dem Versuch, ihrer eigenen Haut zu entkommen. Die gewaltige Triebkraft eines Aufbruchswillen verausgabt sich in den Wucherungen der Arme, die den eigenen Körper nicht in Ruhe lassen können. Der Vielbusigen scheint die Selbstüberwindung fast zu gelingen: Ihre Energieströme fliessen in einen metamorphorischen Prozess ein, der ihrer linken Schulter Flügel verleiht. In dieser Haltung: die eine Schulter beflügelt, die andere von drei Armen verrenkt, ist sie dann jedoch erstarrt. Die grünspanige Patina rückt sie in ferne Vergangenheit zurück.

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