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Michel Nedjar: animo.!

5. April 2009 – 13. September 2009

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Einblick in ein faszinierendes Leben und Werk

Das Kunstmuseum des Kantons Thurgau eröffnet am Sonntag, 05. April 2009, um 11.30 Uhr eine umfassende Werkschau von Michel Nedjar. Die Ausstellung „animo.!“ zeigt erstmals gleichzeitig drei Werkbereiche des Pariser Künstlers, der als einer der bedeutendsten Vertreter der Art Brut gilt. Über hundert Malereien und Grafiken auf gebrauchten Kartonagen, Briefumschlägen und Papierfetzen, achtzig Puppen aus Stoffresten sowie eine Auswahl seiner Experimentalfilme geben einen fundierten Einblick in ein faszinierendes Leben und Werk.

Die Puppen

Michel Nedjar, geboren zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, beginnt in den Siebzigerjahren mit der Produktion von Stoffpuppen. Angeregt durch den Experimentalfilmer Téo Hernan-dez, mit dem er lange Reisen nach Mexiko und in andere Länder des Südens unternimmt, verändert Nedjar sein Vorgehen. An Stelle der ersten hübschen, aber konventionellen Stoffpuppen entstehen fantasievolle, abgründige Kunstwerke.

Für die Produktion der Figuren benutzt der Künstler Stoffresten, die er auf dem Marché aux Puces oder im Abfall findet. Er wickelt und verschnürt erdfarbenen oder teils mit Tierblut eingefärbten Stofffetzen zu Bündeln oder vernäht sie sie mit farbigen Fäden zu figurenähnlichen Objekten. Mit Kronkorken, Stroh, Papierschnipseln oder anderen Materialien werden die Puppen verziert und ergänzt. Die Gesichter der Figuren sind zu Fratzen verzogen. An Stelle der Augen sitzen dunkle Höhlen. Wülste und Falten prägen das Aussehen der Puppen, deren Inneres nicht selten gefüllt ist mit kleinen Schätzen – Fundstücke, die Nedjar in ihnen versteckt und so für die Ewigkeit bewahrt. Neben den erdfarbenen Exemplaren gibt es farbenfrohe, bestehend aus bunten Stoffstücken, die patchworkartig mit farbigen Schnüren zusammengefügt sind. Erstere wirken unheimlich und Angst einflössend, Letztere kommen fast wie die Nähversuche eines Kindes daher und strahlen so auch etwas Unbeschwertes aus.

Die Malereien und Grafiken

Zeitgleich zur Puppenproduktion beginnt Michel Nedjar zu malen. Wie die Puppen bewegen sich auch seine Bilder zwischen dem kindlich Naiven und dem Unheimlichen. Nutzt er für die Produktion der Stoffobjekte gefundene Textilreste, so verwendet er für seine Malereien und Zeichnungen gebrauchte Materialien als Malgrund, etwa Briefumschläge oder Lebensmittelkartons. Die Motive – Gesichter, Figuren und Tiere – wie auch die Malweise Nedjars sind zwar von kindlicher Einfachheit. Die verwendeten Farben und der expressive Ausdruck wirken jedoch düster und beklemmend. Meist verwendet der Künstler Wachsmalkreiden, mit denen er wie in Trance gleich eine ganze Serie von Bildern anfertigt. Hat er kein Papier und keinen Karton mehr, bemalt er die Rückseiten. Vollendet werden die Bilder mit einem Bügeleisen, wodurch er Teile des Bildes wieder zerstört und verfremdet. Diese Technik schätzt Nedjar vor allem ihrer Unberechenbarkeit wegen.

Die Filme

Entscheidend für die Entwicklung seines Werks ist für Michel Nedjar die Begegnung mit dem mexikanischen Experimentalfilmer Téo Hernandez, der seit 1966 in Paris lebte. Der junge Michel Nedjar spielt in Hernandez’ Filmen mit und nimmt bald auch selbst die Kamera in die Hand. 1978 dreht Téo Hernandez ein Porträt seines Freundes, das den Künstler bei der Fabrikation seiner Puppen zeigt. Die experimentelle Aufnahmetechnik spiegelt die hektische Arbeitsweise des Künstlers. Wie beses-sen zerschneidet Nedjar die Stoffe, näht und schnürt, färbt und formt seine Puppen in einer unglaublichen Geschwindigkeit, was der Film durch schnelle Schnitte und Kamerafahrten zusätzlich betont. Hernandez’ Film lässt den Schöpfungsakt und die damit verbundenen existenziellen Gefühlswelten in einer überzeugenden Intensität nachvollziehen. Auch Nedjars eigene Experimentalfilme geben Einblick in seine intuitive, tranceartige Arbeitsweise, die typisch ist für die Ausdrucksweise und den Aufbruch der späten Siebzigerjahre. Mit Augen und Verstand kaum nachvollziehbare, rasend schnelle Schnitte bestimmen die Wirkung der aufflackernden Bilder eines seiner ersten Filme, „Gestuel“ von 1978. Ein anderer, „Monsieur Loulou“, ist den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa gewidmet, die zwischen den zwei Weltkriegen den Marché aux Puces in Paris gründeten, auf dem sie ihre Stoffe und Kleider feilboten. Der Film ist Nedjars Hommage an seine Grossmutter – eine dieser jüdischen Einwanderinnen – und setzt sich mit seinen eigenen Wurzeln sowie dem Trauma des Holocausts auseinander.

Ausstellung im Kunstmuseum Thurgau

In der Ausstellung „animo.!“ im Kunstmuseum Thurgau werden erstmals die Puppen, die Malereien und Grafiken sowie die Filme Michel Nedjars nebeneinander gezeigt. Der Titel, „animo.!“, – eine Wortschöpfung des Künstlers – leitet sich einerseits phonetisch vom französischen Wort animaux (deutsch: Tiere) ab, andererseits spielt er mit der Bedeutung des lateinischen Wortes animus (deutsch: Seele). Die Breite der gezeigten Werke macht „animo.!“ zur umfassendsten Ausstellung, die diesem bedeutenden Art-Brut-Künstler je gewidmet wurde. Sie wird zum Spiegel der existenziellen Ausdruckskraft, die im Inneren des Künstlers ruht. In den aussergewöhnlichen Ausstellungsräumen des Kunstmuseums entfalten die Werke eine Wirkung, die die existenzielle Suche des Künstlers in einzigartiger Art und Weise zum Ausdruck bringt. Das Gefühl und die Intensität, mit denen Michel Nedjar seine Arbeiten erschafft, überträgt sich hier unmittelbar auf das Publikum und berührt es im tiefsten Inneren.

Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit dem museum gugging bei Wien entstanden.

Zur Ausstellung erscheint die Publikation: Johann Feilacher (Hrsg.), michel nedjar: animo.!, Springer Verlag, Wien 2008. 290 Seiten, mit Beiträgen von Silvia Kummer und Markus Landert.

Biografie