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H.R. Fricker: Erobert die Wohnzimmer dieser Welt!

18. September 2011 – 15. April 2012

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Fiktive Kunsthalle St. Gallen, 1980 © H. R. Fricker
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Ort der Wut, 1996 © Kunstmuseum Thurgau
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Lebensraumzeichen von Verena und H. R. Fricker, 1979 St. Gallen © H. R. Fricker
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Erobert die Wohnzimmer dieser Welt!, 2010 © H. R. Fricker
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ABC-Markenbogen, 1985 © H. R. Fricker
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H.R.Fricker: Orte Schrank, 1999 © Kunstmuseum Thurgau

H. R. Fricker, 1947 in Zürich geboren, gehört zu den profiliertesten Künstlern seiner Generation. Geprägt durch die 68er-Bewegung und den Aufbruch der Kunst in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entwickelte er ein aussergewöhnliches Werk, in dem sich kommunikative und ästhetische Strategien in innovativer Art und Weise verbinden.

H. R. Fricker versteht seine künstlerische Tätigkeit gleichermassen als ästhetischen, sozialen und kommunikativen Akt. Er nutzt den Freiraum der Kunst für die Postulierung gesellschaftlicher Anliegen und infiltriert gleichzeitig mit seinen künstlerischen Aktivitäten die Gesellschaft. Dabei sucht er für seine Tätigkeit bewusst Räume ausserhalb des Galerien- und Museumsbetriebs und betritt damit oft auch verbotenes Terrain. Gleichzeitig gründet er eigene Museen und nutzt so eine traditionelle kulturelle Ausdrucksform für seine eigene künstlerische Recherche. Das Besitznehmen von Räumen und das Verschieben von Kontexten ist so eine wichtige Strategie seiner Kunst.

H. R. Frickers künstlerisches Vorgehen entzieht sich einer Zuschreibung mit konventionellen Begrifflichkeiten. Seine Arbeiten könnten allenfalls als Konzept-, Aktions- oder auch Politkunst bezeichnet werden, wobei keiner dieser Begriffe die Sache genau trifft. Nicht einfacher macht den Umgang mit seinem Werk die Vielfalt der genutzten Ausdrucksmittel. Fricker plakatiert, stempelt, beschildert, fotografiert, schreibt und mailt. Er arbeitet an so unterschiedlichen Orten wie dem öffentlichen Raum, dem Briefumschlag, dem Wohnzimmer aber auch im Internet. Hier und anderswo verändert er mit seinen Botschaften die Situation und schafft neue Kontexte, die die Wahrnehmung immer wieder zu irritieren vermögen.

Kommunikation erzeugt Reflexion

Im Zentrum von H. R. Frickers Kunst stehen kommunikative Akte. Der Künstler hat etwas zu mitzuteilen. Oft sind es lediglich kleine Mitteilungssplitter, die er in den Alltag einschmuggelt. Dabei bedient er sich meist ganz einfacher Mittel. In frühen Arbeiten stampft er 1976 Worte wie „Ursache“ oder „grün“ in den frisch verschneiten Hügel der Appenzeller Landschaft. Eine einfache Schwarz-Weiss-Fotografie hält die vergängliche Aussage in der Landschaft fest. Oder aber der Künstler entwirft mit rudimentärsten grafischen Mitteln Kleinplakate, die er fotokopiert und in Nacht-und-Nebel-Aktionen in den Strassen von St. Gallen und Zürich aushängt. Diese Plakate sind Dada, Fluxus und Situationismus ebenso verpflichtet wie dem spielerischen Geist der Jugendbewegung der 1980er-Jahre. Sie können durchaus einmal politische Slogans enthalten oder aber Bezug nehmen auf eine aktuelles gesellschaftliches Problem. Oft geht es dem Künstler aber auch nur darum, öffentlichen Raum mit persönlichen Zeichen zu besetzen. Dabei belässt es H. R. Fricker nicht nur bei der eigenen Aktion. Er formuliert darüber hinaus eine Anleitung zur Erstellung von „Lebensraumzeichen“ und wird zum Initiator einer anarchischen Bewegung. Dies indem er eine Anleitung formuliert, wie mit der Investition von SFr. 12.-, der Nutzung eines Passfotoautomaten und eines Fotokopierers jeder seinen eigenen Lebensraum aktiv bestimmen und besetzen kann.

Exponent der internationalen Mail-Art-Szene

Raffinierter und gestalterisch gepflegter agiert H. R. Fricker ab 1981 im Umfeld der Mail-Art-Szene. Diese Bewegung entwickelte sich in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts und beruht wesentlich auf der Vorstellung, dass sich Kunst nicht in Produktion und Besitz eines „Werks“ manifestiert, sondern in kommunikativen Akten in einem offenen Netzwerk. H. R. Fricker korrespondiert von seinem „Büro für künstlerische Umtriebe auf dem Land“ aus mit Dutzenden von Networkern auf der ganzen Welt. Er organisiert Ausstellungen in seinem Atelier, arrangiert einen Mail-Art-Kongress, der sich als punktuelle Treffen von zwei oder mehreren Exponenten der Szene an verschiedenen Orten auf der ganzen Welt realisiert, und ruft in der Nachfolge von „Dadaism“ und „Fluxism“ den „Tourism“ als aktuellste Kunstform aus.

Bei H. R. Fricker ist Mail-Art immer mehr als das Gestalten von Briefumschlägen oder das Realisieren von eigenen Briefmarken. Mail-Art ist ein Haltung, die die Kommunikation und ihre Formen selbst zum Thema macht. Der Briefumschlag wird für H. R. Fricker zum Experimentierfeld, auf dem er seine Beobachtungen, seine Setzungen und seine Statements in unterschiedlichster Ausformung und Ausformulierung in die Welt hinausschickt. Der Brief wird zur Plattform, in dem - neben der eigentlichen Briefbotschaft - immer auch grundsätzliche Positionen zur Politik und zur Kunst verhandelt werden. Und mit den selbstgestalteten Briefmarken kratzt der Künstler durchaus auch am staatlichen Monopol der Wertzeichenproduktion. Auch hier besetzt H. R. Fricker Felder, die nicht eigentlich der Kunst angehören, agiert in Bereichen, die nicht den Künstlern vorbehalten sind.

Vom Briefumschlag in den Raum

Im Laufe seiner Mail-Art-Aktivitäten erprobt H. R. Fricker Strategien der Kommunikation, die sich auch in andere Lebensbereiche überführen lassen. Das auf dem Briefumschlag geübte Formulieren auf kleinstem Raum verselbständigt sich. Seine Statements heften sich als Button oder Kappenbeschriftungen den Menschen an, fahren als Eisenbahnwagenbeschriftung durch die Landschaft oder bezeichnen als Schilder die unterschiedlichsten Orte. „Dammed to be a tourist“ entwickelt sich vom Diskussionsbeitrag in der Mail-Art-Szene zur Selbstbeschriftung auf einer Basketballmütze. „Nur Sender kann man Orten“ wandelt sich von der gestempelten Kommunikationsanalyse zur plakatgrossen Kunst-am-Bau-Arbeit an einem Museum.

Damit hat H. R. Fricker Ausdrucksmittel in der Hand, auch raumgreifende Arbeiten zu realisieren. Anfang der Neunzigerjahre tauchen in seinem Werk erstmals Schilder auf, mit denen er Räume benennt und besetzt: zuerst Ausstellungsräume, dann Stadträume und immer mehr auch den privaten Wohnraum. Seine grösste Arbeit konnte H. R. Fricker 1996 mit dem Orte-Kataster mit dem Titel „Rückgrad“ im Auftrag der Stadt St.Gallen realisieren. Das Werk unterteilt die ganze Stadt in einen Raster aus vierzehn Quadraten, deren Seiten je 400 Meter messen. Jedem dieser Felder ist zufallsgesteuert eine Ortsbezeichnung zugewiesen: Das eine Stadtquartier wird zum „Ort der Lust“, ein anderes zum „Ort der Scham“ oder zum „Ort der Vision“. Wer in St.Gallen wohnt kann sich Frickers Benennungsakt nicht entziehen. Allerdings wissen wohl nur die wenigsten Bürger, dass sie am „Ort der Ohnmacht“ oder am „Ort der Ironie“ wohnen. Die Zuweisungen sind nur durch Bodenmarkierungen an den Eckpunkten der Quadrate kenntlich gemacht und durch einen Stadtplan dokumentiert. Wer aber einmal entdeckt hat, dass er am „Ort der Lüge“ oder am „Ort der Manie“ wohnt, der kann sich dieser Erkenntnis schwerlich entziehen. Der einfache Akt der Benennung führt zu einer unausweichlichen Veränderung der Wahrnehmung dieses Ortes. Ähnliche Konzepte kann H. R. Fricker, wenngleich temporär beschränkt, in Zürich und Bregenz realisieren.

H. R. Fricker passt die Strategie der Benennung an unterschiedliche Situationen an. Im Orteschrank im Kunstmuseum Thurgau werden sechzehn Orteschilder dem Publikum als Leihgaben angeboten. Wer will, kann sich im Museum ein Schild „Ort der Wut“ oder „Ort der Trauer“ ausleihen, um dieses bei sich zu Hause anzubringen. Im Museum zurück bleibt nur ein Leihvertrag, in dem der Leihnehmer zusichert, dass der mit dem Schild bezeichnete Wohnbereich zu einem Teil des Kunstmuseums Thurgau wird. Gleichsam als Nebeneffekt der Benennung dringt so das Museum in die Wohnstube ein. Die Grenzen zwischen öffentlichem und privatem Raum brechen auf.

Es ist nur konsequent, dass die Bewegung vom Öffentlichen zum Privaten auch umgekehrt angelegt wird. H. R. Fricker bietet auf der Homepage placeofplaces.com Orteschilder zum Verkauf an mit der Auflage, dass diese im Wohnbereich aufgehängt werden müssen. Eine Fotografie des platzierten Schilds wird auf der Homepage publiziert. Das Wohnzimmer wird so im öffentlich Raum des Internets sichtbar gemacht. Bis heute sind schon über zweihundert Orteschilder verkauft, zweihundert Wohnzimmer öffentlich einsehbar.

Ausgehend von den Orte-Arbeiten entwickelt H. R. Fricker mehrere Projekte mit Beschriftungen und Beschilderungen. 1996 lässt er den „Seh-Zug“ auf der Linie der Bodensee-Toggenburg-Bahn fahren. 2004 realisiert er für das Engadiner Bergdorf vna ein Schilderblock mit Verben, die umschreiben, was mit Sprache alles möglich ist: fluchen, philosophieren, lehren, … . Diese Schilder werden aussen an die Häuser gehängt, wobei jedes Jahr neu bestimmt wird, welches Schild an welchem Haus hängt. Dafür werden die Schilder von der Hauswand genommen und auf dem Dorfplatz ausgelegt. Die Schilderverteilung wird zum Dorfereignis.

Ab 2008 entstehen die „Charaktersätze“. Diese Schildergruppe benennt Charaktereigenschaften und kann ganz unterschiedliche Grössen annehmen.

Die Idee des Museums auf dem Prüfstand

Für H. R. Fricker sind die Schilder nicht als ästhetische Objekte interessant, sondern als Instrument, um ein offenes Kommunikationsdispositiv aufzuspannen. Wie weit diese Kommunikationskonstellationen angedacht sind, zeigt sich im Projekt „Alpstein-Museum“. 2002 deklariert der Künstler die 18 Berggasthäuser des Alpsteingebiets zum Museum. Er beschildert die Restaurants mit dem Begriff „Alpstein-Museum“, stattet sie aus mit Museumsbibliotheken, die Wissenschaftliches und Erbauliches über die Region enthalten. Zudem organisiert er Ausstellungen, Künstleraktionen aber auch die „Alpstein-Gespräche“, in denen alle auftreten können, die etwas über die Region zu sagen haben. Parallel zur Inbetriebnahme dieses „alpinen Museums vor Ort“ nutzt H. R. Fricker Ausstellungseinladungen im Kunstverein Konstanz oder im Kunstmuseum Olten dazu, sein Alpines Museum als Kunstprojekt zu portieren. So verwandelt er einerseits mit seiner Deklaration eine ganzen Region in ein Museum und lässt diesen Alpenraum in einem anderen Kontext sehen. Andererseits aber stellt er im Kunstumfeld den Museumsgedanken durch diese radikale Erweiterung grundsätzlich zur Diskussion.
Das Alpstein-Museum bleibt nicht H. R. Frickers einzige Museumsgründung. 2006 injiziert er als Kunst am Bau-Arbeit im Alterswohn- und Pflegezentrum Hof Speicher das Museum für Lebensgeschichten. In diesem Museum werden Lebensgeschichten in Form von Ausstellungen, Führungen, Vorträgen, Erzählcafés, Diskussionen und weiteren Aktivitäten visualisiert. Hinter dem Museum für Lebensgeschichte steht ein Trägerverein. Dieser stellt die Verbindung zur Bevölkerung her und bildet ein tragfähiges Fundament, ohne das dieses ehrgeizige Projekt nicht weiter ausgebaut werden kann. Der Künstler liefert nicht mehr ein Werk, sondern lediglich eine Idee zu einem Unterfangen, das erst mit den Menschen, die es betreiben, wächst und Form gewinnt.
H.R. Frickers Museumsgründungen bilden den letzten Schritt einer Institutionskritik, die das Werk des Künstlers seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts durchwebt.

H. R. Frickers Arbeiten erzeugen immer wieder Irritationen und erzwingen eine Hinterfragung der Normen der Wahrnehmung. Selbstreflexion und Erkenntnisgewinn sind zentrale Erfahrungen der Auseinandersetzung mit seinen Werken. H. R. Fricker ist ein Verfechter der freien und autonomen Kunst, die sich vorgefertigten Definitionen verweigert. Daher verwundert es nicht, wenn er von sich behauptet, er sei eigentlich kein Künstler. Sein Feld sind die Offenlegung gesellschaftlich verankerter Normen sowie die Überprüfung der eigenen Position darin.

Biografie

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