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Joseph Kosuth: Eine verstummte Bibliothek

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Joseph Kosuth, Eine verstummte Bibliothek, 1999 Fotografie: Stefan Rohner
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Joseph Kosuth, Eine verstummte Bibliothek, 1999 Fotografie: Stefan Rohner
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Joseph Kosuth in der verstummten Bibliothek Aufnahme: Kunstmuseum Thurgau, 1999
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Joseph Kosuth. Eine verstummte Bibliothek, 1999, 2013 erneut eingebaut. Fotografie: Mirjam Wanner

Herstellungsjahr: 1999

Technik: Gravierte Schieferplatten

Die Ittinger Bibliothek gehörte im 18. Jahrhundert zu den wenigen, reich bestückten Büchersammlungen im Kanton Thurgau. Tausende von Büchern lagerten wohlgeordnet in einem Raum über der Sakristei des Klosters. 1848 wurden im Thurgau durch einen Regierungsentscheid die Klöster aufgehoben. Alle Besitztümer der Orden, Gebäude und Ländereien ebenso wie die liturgischen Geräte oder das Finanzvermögen fielen an den Staat. Die Klosterbibliothek Ittingen erlitt das gleiche Schicksal. Der junge Kanton Thurgau wusste nicht recht, was er mit den Büchern anfangen sollte. Nach längerem hin und her wurden Teile der Klosterbibliothek verkauft und verschenkt, wichtige Bücher aber der Kantonsbibliothek einverleibt, wo sie bis heute sorgfältig gehütet werden. Es lässt sich nicht genau bestimmen, wie viele Bücher bei der Bibliotheksauflösung in Ittingen verschwunden sind. Die Klosterbibliothek als Aufbewahrungsort des Wissens und als Instrument der Bedeutungsschöpfung aber war verstummt.

Joseph Kosuth bringt die verstummte Bibliothek in Form eines Zitats an ihren ursprünglichen Ort zurück, indem er das Inhaltsverzeichnis des Bibliothekskatalogs von 1717 in den Boden des Ausstellungsraumes eingravieren liess. Der Bibliothekskatalog besteht aus einem handgeschriebenen Buch, in dem alle damals vorhandenen Titel verzeichnet sind. Die Bibliothek ist in 22 Wissensbereiche unterteilt, so dass das Inhaltsverzeichnis aus einer Liste mit 22 Punkten besteht. Mit der Übertragung dieser Liste auf den Boden des Ausstellungskellers wird die gesamte Bibliothek zitiert und damit deren Ordnung und Abwesenheit zum Thema gemacht.
Joseph Kosuth ist es wichtig, dass nicht der Künstler die Bedeutung schafft, sondern dass sie für den Besucher, die Besucherin in der Ausstellung entsteht. Er meint: ”Die Leute sollen hingehen, über den Text nachdenken, über die Installation, über die gesamte Ausstellung und ihren Ort. Ich möchte die Situation des späten 20.Jahrhunderts vermeiden, in der uns als passive Kulturkonsumenten von anderen, die wir in der Position von Autoritäten vermuten, Bedeutungen vorgesetzt werden. Ich möchte nicht, dass Leute sich zurücklehnen, um Gemälde oder jene andere Autorität des Fernsehens anschauen. Ich möchte vielmehr, dass sie einen spezifischen Bruch der normalen Erfahrung von Bedeutung finden, um aus den Elementen, die ich zur Verfügung stelle, eine Konstruktion zu machen. Der Kontext wird in demselben Masse durch meine eigene Geschichte und meine Arbeit bestimmt wie durch den Ort.”
Die verstummte Bibliothek will weit mehr, als nur auf ein historisches Ereignis zu verweisen. Sie bietet den Museumsbesuchern gleichsam ein Erfahrungsfeld, das abgeschritten werden will. Im Gehen durch den Raum erschliesst sich der Text, oder eben nicht. Das Faksimile der Handschrift aus dem 18. Jahrhundert kann nur von wenigen entziffert werden. Was für die Mönche nicht geheimnisvoller war als für uns eine Einkaufsliste, bleibt den Menschen des 21. Jahrhunderts weitgehend unverständlich. Aber gerade in der Verweigerung eines schnellen Verstehens liegt die Qualität der verstummten Bibliothek: Dieses Scheitern provoziert ein Nachdenken darüber, was denn Verstehen überhaupt meint und wie die Ordnung des Wissens unsere Vorstellung der Welt mitbestimmt.

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