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H.R. Fricker: Orte-Schrank. Ein interaktives Projekt zwischen Museum und öffentlichem Raum

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H.R.Fricker: Orte Schrank, 1999 © Kunstmuseum Thurgau

Herstellungsjahr: 1999

Technik: Emailschilder in einem Lista-Schrank

Masse: 100 x 56 x 72 cm

Der Orte-Schrank von H.R. Fricker ist ein Objekt, das zwischen Skulptur und interaktiver Installation einen fundamentalen Mechanismus der Gestaltung von Raum untersucht. Die Arbeit lässt die Kunstnutzer unmittelbar erleben, in welcher Weise eine Benennung einen Raum umfassend anders zu definieren vermag, und demonstriert so eine zeitgemässe Möglichkeit der Gestaltung von Welt.

Der Orte-Schrank von H.R. Fricker zählt 17 Schubladen. 16 davon sind gefüllt mit je einem Schild, das einen Ort bezeichnet: „Ort der Angst“, „Ort der Wut“, „Ort der Trauer“, aber auch „Ort der Lust“, „Ort der Vision“ oder „Ort der Ironie“. In der untersten, der 17. Schublade lagern kleine Kartonschachteln, in denen je drei kleinere Schilder liegen. Diese Schilder tragen 15 verschiedene Funktionsbezeichnungen von Orten: „Schauplatz“, „Mittelpunkt“, „Asyl“. Fricker nennt die Schilder in dieser 17. Schublade den „Ittinger Zusatz“.
Frickers Orte-Schrank ist – obwohl er im Museum steht – kein Schaustück wie ein Gemälde oder eine Skulptur. Beim Schrank handelt es sich um ein handelsübliches Produkt einer Büromöbelfabrik. Auch die einzelnen Schilder sind nicht vom Künstler selbst, sondern von einem spezialisierten Handwerker hergestellt worden. Es sind nicht Kunstwerke im traditionellen Sinn, sondern Kommunikationsinstrumente: Schilder eben. Ihre volle Wirkung entfalten diese Instrumente erst, wenn Sie vom Publikum in Betrieb genommen werden. Im Museum hinschauen genügt nicht. Der adäquate Umgang mit dem Orte-Schrank besteht darin, mit einem dieser Schilder einen Ort der eigenen Wahl zu beschildern und damit als einen bestimmten Ort zu definieren. Zu diesem Zweck können die grossen Orte-Schilder ausgeliehen werden. Leihverträge liegen beim Kassepersonal bereit.
Für die kleinen Funktionsschildchen wird ein anderes Vertriebskonzept genutzt: der Verkauf. Der „Ittinger Zusatz“ ist als Multiple konzipiert und wird an der Kasse in Serien zu drei Stück für SFr. 250.– an der Museumskasse abgegeben. Je nach Absatz und Bedarf können zusätzliche Schilder produziert werden. Die Tafeln verlassen also das Museum als Leihgabe oder verkauftes Objekt und erfüllen jene Aufgabe, die Schilder üblicherweise übernehmen: Sie bezeichnen Orte.
Der Orte-Schrank wurde als Auftrag für die Kunstsammlung des Museums hergestellt, was Auswirkungen auf die Realisierung des auch anderweitig eingesetzten Orte-Konzeptes des Künstlers hatte. So bezieht sich die Wahl der Farben der Tafeln explizit auf das Museumsumfeld. H.R. Fricker bat den Leiter des Museums um eine Liste von Künstlerinnen und Künstler, von denen er Werke für eine repräsentative Kunstsammlung der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts erwerben würde. Die Farben wurden dann aus Schlüsselwerken der jeweiligen Künstlerinnen und Künstler isoliert. Durch dieses Spiel zitiert jede Tafel eine künstlerische Haltung von internationaler Bedeutung. Der Schrank als Ganzes skizziert inmitten der doch vorwiegend regional ausgerichteten Bestände des Kunstmuseums des Kantons Thurgaus eine ideale, international ausgerichtete Sammlung, verbindet und kontrastiert gleichzeitig das lokale und das internationale Kunstschaffen und thematisiert hiermit die für die Kunst zentrale Wertefragen: die Frage nach der richtigen Auswahl aber auch die Frage nach dem Zusammenwirken von lokalen und internationalen Wertesystemen.
Zur Diskussion der Wertesysteme gehört auch die grundsätzliche Frage nach der Funktion der Kunst in der heutigen Gesellschaft. Im Orte-Schrank ist diese Fragestellung besonders virulent. Fricker setzt mit den Schildern eine alltägliche Kommunikationsstrategie ein, die er zum künstlerischen Ausdrucksmittel umnutzt. Durch den Schrank im Museum verankert und zum Kunstwerk geadelt, werden die Schilder – verteilt durch Ausleihe oder Verkauf – zu Trägern künstlerischer Fragestellungen in kunstfremden Räumen. Sie erweitern den Wirkungsbereich des Museums ins Alltagsleben. Im Leihvertrag steht: „Die Schildmontage konstituiert den bezeichneten Ort temporär als Teil des Kunstmuseums des Kantons Thurgau“. Dieser Satz – er ist nicht nur eine Behauptung, sondern eine Vereinbarung zwischen dem Künstler und seinem Publikum – postuliert den Anspruch, dass die Montage eines Fricker-Schildes einen Raum nicht nur als „Ort der Scham“ oder als „Ort der Gier“ definiert, sondern dass sie den Ort zudem in einen Museumsraum verwandelt. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wodurch sich ein Schild von Fricker von einem normalen Strassenschild unterscheidet, führt so direkt ins Zentrum der Diskussion um die Mittel und Funktion der Kunst im gesellschaftlichen Umfeld.
Frickers Schilder unterscheiden sich massgeblich von den alltäglichen Beschilderungskonventionen. Von einem Schild erwarten wir, dass es sinnfällige Festlegungen definiert. Schilder geben üblicherweise in knappster Form verbindliche Informationen über einen Ort. Strassenschilder warnen und regeln. Ortsschilder teilen uns mit, wo wir uns befinden. Hinweisschilder zeigen uns den Notausgang, führen uns zum Museum, zum Restaurant, zur Toilette. Zwischen Schild und Realität besteht eine verbindliche und nachkontrollierbare Beziehung. Selbst bei den Beschilderungen von Strassen und Plätzen wird die Konvention einer möglichen Beziehung von Benennung und Realität nicht gebrochen: Auf dem Ratshausplatz steht das Rathaus, die Zürcherstrasse führt nach Zürich und auf dem Schweinemarkt wurden mal Schweine verkauft. Und auch die Finken-, Amsel-, Drosselwege in Neubauquartieren widersprechen der Realitätsbindung der Beschilderungen nicht grundsätzlich. Solche Benennungen erzeugen Unterscheidungsmerkmale, die durch ihre Beschreibung in Bestimmungsbüchern oder Lexikas Verbindlichkeit erhalten.
Das Benennen eines Ortes ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff. Die Benennung öffentlicher Orte ist eine Amtshandlung. üblicherweise wird darauf geachtet, dass Strassen- oder Platzbezeichnungen wertneutral benannt werden. Ob ein Ort „Strasse der Befreiung“ oder „Stalin-Allee“ heisst, ist nicht unerheblich für die Leute, die da leben oder für die Aktivitäten, die da stattfinden. Mit einer Benennung wird ein Ort untrennbar mit einem Bedeutungsumfeld verbunden. Ein solches Bedeutungsumfeld kann entweder belanglos oder aber höchst beunruhigend sein. Es macht keinen Unterschied am Buchenweg oder am Fichtenweg zu wohnen. Die gleichartigen Namen dienen hier lediglich der Unterscheidung von ähnlichem. Wer aber lässt sich in einem Quartier nieder, das als „Ort der Wut“ oder „Ort der Angst“ beschildert ist. In St.Gallen kann einem genau dies passieren. H.R. Fricker hat 1996 die Stadt in 14 quadratische Felder aufgeteilt und diesen seine Benennungen zugelost. Dieser Orte-Kataster wird in einem Stadtplan sichtbar gemacht und gleichzeitig durch Vermessungspunkte im realen Stadtraum markiert. Wer an der Schönaustrasse lebt, lebt zudem am „Ort der Angst“, die Friedeggstrasse befindet sich am „Ort der Trauer“. Während beim Orte-Kataster der Künstler die Benennung gleichsam in einem Akt der Amtsanmassung ohne Rücksprache mit dem Publikum vornimmt, ermöglichen die Schilder des Orte-Schranks jeder einzelnen Person, an einem beliebigen Ort einen solchen Definitionsakt durchzuführen. Die Rezipienten werden zu Agitatoren.
Frickers Schilder irritieren die Konventionen von Beschilderungen nachhaltig, indem sie den Orten Gefühlszustände zuweisen. Gefühle sind schwankende Befindlichkeiten, die kommen und gehen. Es sind unkontrollierbare Prozesse, die wir individuell erfahren und erfahren wollen. Gefühle enthalten praktisch ausnahmslos starke Wertungen. Wir empfinden sie als positiv oder negativ. Da, wo amtliche Schilder üblicherweise Objektivität und Allgemeingültigkeit vorgeben, postulieren Frickers Schilder mit einem Mal individuelles Erleben und Empfinden. Sie definieren neue, beunruhigende Kontexte, unterlegen ganze Räume oder gar Quartiere mit stark emotional aufgeladenem Sinngehalten. Wie ein Fluch liegt die Definition „Ort der Angst“ über einem Raum, während die Benennung als „Ort der List“ oder als „Ort der Vision“ zu geistigen Höhenflügen anregen kann. Wer ein Schild gelesen und es als Deklaration erkannt hat, sitzt in der Falle. Der Ort verändert sich, ohne dass ein materieller Eingriff geschehen wäre. Oder genauer: Der Ort bleibt der gleiche, aber wir sehen ihn anders.
Durch die Verletzung der Konventionen amtlicher Beschilderung geschieht verschiedenes: Die Konvention selbst rückt als veränderbares Gestaltungselement der Gesellschaft in unser Blickfeld. Unsere Aufmerksamkeit wird auf ein durch sein Funktionieren im Alltag bis zur Unsichtbarkeit eingeübter Mechanismus gelenkt. Die Wirkung und Wirksamkeit der scheinbar unbedeutenden Benennungskonvention auf unsere Wahrnehmung wird offensichtlich. Modellhaft demonstriert wird auch, dass Gestaltung längst nicht mehr allein an einen Formungsprozess von Materie gebunden ist. Die Gestaltung von Mechanismen der Wahrnehmung und von Wertemustern, die einer Auseinandersetzung zugrunde liegen, wird als Gestaltungspotential erfahrbar gemacht. Der Zusammenhang von Sehen, Bezeichnen und Verstehen der Dinge wird offensichtlich. Dies gilt beim Orte-Schrank in besonderem Masse, da der Künstler als Agitator zurücktritt und den Rezipienten seine Tafeln für den Benennungsakt zur Verfügung stellt. Der Künstler macht ein Angebot das vom Publikum verwirklicht werden muss. Das Publikum wird – wie bei Jochen Gerz – Mitautor der Arbeit, indem es mitbestimmen kann, welches Gefühl welchem Ort zugeschrieben wird. Jeder Einzelne, jede Einzelne wird eingebunden in die Verantwortung, die Welt durch seine Definition mitzugestalten.
H.R. Fricker (*1947 in Zürich) lebt und arbeitet in Trogen AR. Er gehört zu den profiliertesten Künstlerpersönlichkeiten der Ostschweiz und hat 1999 den Ausserrhodischen Kulturpreises zugesprochen erhalten. Der Orte – Schrank ist eine für das Kunstmuseum des Kantons Thurgau entwickelte Adaption seiner Arbeitsweise, die bereits an verschiedenen Orten, so in St.Gallen, Bregenz oder auf der Grimsel, Anwendung gefunden hat. Ursprünglich war geplant, für das Kunstmuseum einen Orte - Pfad einzurichten. Dieses Projekt für den Ittinger Wald scheiterte an der Opposition aus Jägerkreisen.
Der Orte – Schrank ergänzt den Bereich der konzeptuellen Kunst in der Sammlung des Kunstmuseums des Kantons Thurgau, zu der bereits Arbeiten von Jenny Holzer, Joseph Kosuth oder Rutishauser / Kuhn gehören, auf überzeugende Art und Weise durch eine bedeutende Position aus der Ostschweiz.
Die Arbeit wurde entscheidend unterstützt durch die LISTA AG, Betriebs, Lager- und Büroeinrichtungen in Erlen

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