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Dietzsch, Ina

Welche Kultur und für wen

Vortrag: Symposium "Professionalisierung - Fluch oder Segen", Kartause Ittingen, 25./26.5.2005 Welche Kultur und für wen? (Teil 1)

Dieser Teil des Programms heißt Neuland und Visionen. Neuland haben wir 2002 betreten, als wir von der Kulturstiftung des Bundes den Auftrag erhielten, eine Bestandsaufnahme der kulturellen Situation in Ostdeutschland (also in den neuen Bundesländern des vereinigten Deutschlands) zu machen. Wir möchten hier nicht die Studie vorstellen , sondern wir haben unsere Befunde auf diese Veranstaltung hin noch etwas weitergedacht und die Forderungen für Politik (speziell für die Kulturpolitik) konkretisiert. Wir sprechen hier aus unserer Erfahrung in den neuen Bundesländern, die sicher nicht ohne weiteres auf die Situation in der Schweiz übertragbar ist. Aber wir glauben, auch aus dem, was wir gestern und heute hier gehört haben, dass Sie die einen oder anderen Anknüpfungspunkte für die Schweiz dabei finden werden.
Um zu verdeutlichen, von welchem Standpunkt aus wir in unseren Vortrag argumentieren, möchte ich mit einer der ungezählten und sich doch ähnelnden Beschreibungen der Situation in den neuen Bundesländern beginnen:
„Wenn Erwerbsarbeit an einem Ort weniger wird, dauert es nicht lange und auch die Zahl der dort lebenden Menschen nimmt ab. Sie ziehen der Arbeit hinterher. Was bleibt, sind leerer werdende Räume: Zum Beispiel der Ort Oschatz in Sachsen: Eine fast 800-jährige ehemalige Garnissionsstadt, verkehrsgünstig genau in der Mitte der traditionsreichen Eisenbahnlinie Leipzig-Dresden gelegen. Prosperierend vor dem II.WK Krieg, zu DDR-Zeiten Kreisstadt, Standort sowjetischer Truppen und einiger mittlerer Industriebetriebe. Zwischen 1990 und 2004 verringerte sich die Oschatzer Bevölkerung um 14 Prozent. Die Arbeitslosenquote im Landkreis liegt derzeit bei 24,3 %. Das Kino am Marktplatz machte gleich nach der Wende dicht, die Kreisverwaltung wanderte nach der Neuaufteilung ins nahe gelegene Torgau – dafür gibt es jetzt vier moderne, nicht ausgelastete Gewerbegebiete, ein Spaßbad und ein Einkaufszentrum am Stadtrand. Die Aral-Tankstelle an der Bundesstraße in Richtung Leipzig ist beliebter Treffpunkt der verbliebenen Jugend (…).
Die Hälfte der Einwohner des Ortes ist bereits über 45 Jahre. Jährlich sterben 59 mehr Oschatzer als geboren werden. Die Zahl der Weggezogenen übersteigt die Zahl der Ankömmlinge derzeit jährlich um 112. Wachstum sieht anders aus.“ Diese kurze Beschreibung macht im Prinzip die gesamte Spannweite der Probleme auf, die in Ostdeutschland, aber inzwischen längst nicht mehr nur dort, jenseits von großen Städten vorherrschen: Erwerbslosigkeit in hohem Maßstab,
schrumpfende Städte bzw. Ausdünnung ganzer ländlicher Regionen durch Abwanderung, aber auch massive Veränderungen in der Altersstruktur der Bevölkerung, daraus folgend Abbau von Infrastruktur und zunehmende Perspektivlosigkeit, die vor allem bei den jungen Menschen zum Tragen kommt.
Diese Situation ist keine spezifische für die neuen Bundesländer, sie zeigt sich hier nur besonders deutlich, weil nach dem Zusammenbruch der DDR zwei Entwicklungen zusammentreffen, die sich in ihrer Wirkmächtigkeit verstärken – die postsozialistische Transformation und zugleich ein gesellschaftlicher und kultureller Wandel, der mit dem Ende der Industriemoderne allgemein einher geht und in allen europäischen Ländern neue Fragen nach dem Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Kultur stellt - in einem europäischen, aber auch in einem globalen Zusammenhang.

Ich möchte diese Fragen exemplarisch an zwei ausgewählten Themenfeldern präzisieren: Thema 1 behandelt die kulturelle Ausdifferenzierung und die Frage nach sozialer Integration und Thema 2 Stadtschrumpfung bzw. die Ausdünnung ländlicher Räume.

I. Kulturelle Ausdifferenzierung und die Frage nach sozialer Integration
Die Industriemoderne war davon gekennzeichnet, dass sie Integrationsmodi zur Verfügung stellte, die von der Mehrzahl einer Bevölkerung in Anspruch genommen werden konnten (Erwerbsarbeit und entsprechende gesellschaftliche Zeitrhythmen, institutionalisierte Normalbiographie, Nation als Konstrukt der Zugehörigkeit). Die Begrifflichkeiten, mit denen die Sozialwissenschaften jeweils versuchten, soziale Großgruppen zu beschreiben, sprechen eine deutliche Sprache der Auflösung sozialer Zusammenhänge (Klasse, Schicht, Milieu, seit den 1990ern Szene). Und immer mehr setzt sich im allgemeinen Sprachgebrauch inzwischen durch, dass Menschen von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen abgekoppelt werden, bzw. die Frage wie sie in einer Entwicklung, die Machtverhältnisse komplett neu umschichtet, noch mitgenommen werden können. In Deutschland ist im Moment zudem gerade der Begriff Parallelgesellschaft in der Diskussion. Er suggeriert, kulturelle Differenzen seien etwas Neues und parallel im geometrischen Sinne, also ohne Berührung verlaufen die kulturellen Entwicklungen auch nicht. Im Gegenteil, sie stehen in so heftigem Austausch, dass sie konfliktär erlebt werden. Die Konjunktur des Begriffs muss dennoch ernst genommen werden als Ausdruck einer weit verbreiteten Wahrnehmung von starker sozialer und kultureller Ausdifferenzierung, und dafür dass gesamtgesellschaftliche Integrationsmechanismen nicht mehr zuverlässig greifen, sich immer größere Teile der Gesellschaft der Kontrolle des Staates entziehen und als von ihm abgekoppelt empfinden.
Diese Tendenzen einer Wahrnehmung kultureller Ausdifferenzierung und sozialer Ausgrenzung stellen die Frage nach neuen Formen für die Teilhabe an Gesellschaft und die Herstellung gemeinsamer, gesellschaftsübergreifender Wissensbestände. Meine These ist, dass dies eine der wichtigsten politischen Herausforderungen der kommenden Jahre sein wird.

Versteht man Ostdeutschland als ein Fall, in dem sich Widersprüchlichkeiten in der Gleichzeitigkeit von Industriemoderne und Spätmoderne besonders deutlich zeigen, und will man aus den Erfahrungen dort lernen, dann muss die geringe Partizipation von „Ostdeutschen“ an Parteien und von der alten Bundesrepublik übertragenen Institutionen, die bisher immer als Demokratiedefizit diskutiert worden ist, in einem neuen Licht gesehen werden. Beim genaueren Hinsehen wird sie dann nämlich als eine für ausdifferenzierte Gesellschaften allgemein gar nicht so seltene Nicht-Kompatibilität von traditionellen politischen Institutionen mit lokalen kulturellen Zusammenhängen und Bedürfnissen sichtbar.
Die Reaktion der „Ostdeutschen“ auf diese Nichtkompatibilität ist u.a. ein Ausweichen auf Identitätspolitik mit einem klaren Schwerpunkt auf Deutsch-Sein (sich als „Ostdeutsche“ zu verstehen/gar zu ethnisieren), ein Ausweichen also auf eine emotionale Politik, die an Gefühle von Zugehörigkeit anknüpft und auf soziale Anerkennung/Nichtanerkennung Bezug nimmt. Diese wiederum entzieht sich herkömmlichen Politikformen, die auf Kompromissen, Programmatiken und vertragsähnlichen Beziehungen aufbauen, denn sie lässt sich immer wieder neu aktivieren. Aus einer Minderheitenposition heraus kann man sich immer wieder neu darauf berufen, nicht genug Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft zu bekommen. Dies stellt ein Problem für demokratisch verfasste Gesellschaften dar. Wenn sie das System nicht sprengen soll, dann muss auch Identitätspolitik politisch moderiert werden.

Es sind jedoch schon mehrere Akteure zu Gange, die darauf Bezug nehmen, die als populistisch bezeichnet werden können, vor allem Medien und ein politischer Rechtspopulismus. Aus der Tradition der cultural studies ist bekannt, dass „Populärkultur maßgeblich beeinflusst, wie Menschen sich verstehen und ihrem Leben bzw. der Welt einen Sinn verleihen“ und sie „ist (…) zu einem wichtigen Feld der ideologischen Auseinandersetzung und zur wichtigsten Quelle für eine Ikonographie des Lebens der Menschen geworden.“ John Fiske bspw. beschreibt die politische Dimension der Populärkultur in der Formation affektiver Allianzen, eine Identifikation über Lust, Phantasie, Ökonomie, Vergnügen, Spaß, Erfüllung von Wünschen, Katharsis, Trost, den Reiz, die Gefühlswelt mit anderen zu teilen, die Euphorie des Ausbruchs usw.
Strategischer Medienpopulismus dagegen ist der Versuch „der kommerzieller Medien (…), ihre eigene Version einer populären Stimme durchzusetzen“ – eine machtvolle Strategie der Vermittlung, die an populäre Sprache anknüpft und deren Symbolik benutzt.

Rechtspopulismus von Parteien funktioniert auf eine ähnliche Art und Weise. Er arbeitet mit Tabubrüchen und strategischer Provokation, um zu öffentlicher Aufmerksamkeit zu kommen und knüpft dabei über Betonung und Herausforderung von Gefühlen an identitätsrelevante Fragen an (durch die Konstruktion eines „wir“ und „die“, einer starken Polarisierung, der klaren Trennung Norm und Abweichung. Er betreibt vor allem Kulturessentialismus und stützt systematisch die Geschlechterdifferenz. Und er arbeitet – dies stellt wohl die effektivste Strategie dar - mit Schamreduktion und einer Wendung von Scham in Stolz.
Der Rechtspopulismus zeichnet sich dabei durch Professionalität und durch eine flexible Reaktionsfähigkeit auf konkrete Ereignisse aus. Er ist erfolgreich durch professionelles Aufmerksamkeitsmanagement, das auf kurze Schlüsse setzt und wenig Abtraktionsfähigkeit fordert etc. Und er besetzt Themen mit Alltagsnähe und identitätspolitischem Hintergrund (Einwanderung, Fremdheitserfahrungen und Wir-Zugehörigkeit).
M.E. ergibt sich hieraus eine wichtige politische Frage und Handlungsanforderung: Wie kann bei zunehmender alltäglicher Wahrnehmung von Differenzen ein gesellschaftliches Interesse an Pluralität erhalten werden, das die Neugier am Anderen erhält und zugleich das Gefühl von Desintegration und die damit verbundenen Ängste reduziert? Hier muss staatlich geförderte Politik jenseits von eindimensionalen Aufklärungskampagnen professioneller und vor allem phantasievoller (und damit auch machtvoller) handeln.

II. Schrumpfende Städte und ausgedünnte Regionen
In Deutschland setzen sich derzeit immer mehr politische Strategien durch, die in Orte und Regionen unterscheiden, die wegen ihres Wachstumspotenzials zu fördern sind und solche, die keine Chance mehr haben – die Leuchturm- und Irrlichtmetaphorik ist dafür anschaulicher und zugleich trauriger Beleg. Denn in der Tat werden damit Orte und Regionen systematisch aus einer gesamtgesellschaftlich und staatlich gesteuerten Verteilungs- und Entwicklungsdynamik abgekoppelt. Dabei erweisen sie sich oftmals bei genaurem Hinsehen als Vorreiter in Bezug auf Entwicklungen, die den derzeitigen Wachstumsenklaven möglicherweise erst noch bevorstehen, und zugleich offenbaren sich hier neue Umgangsweisen mit krisenhaften Zuständen, aus denen sich lernen ließe.

Das Ende einer langen Wachstumsphase wird als Charakteristikum von gesellschaftlichem Wandel auch in größeren europäischen Städten immer deutlicher wahrnehmbar. Nicht nur, dass seit den 1970er Jahren Städte kontinuierlich schrumpfen , „die Bevölkerung in alten Industriestaaten wie Italien, Deutschland, Japan oder auch Russland, beginnt kleiner zu werden, der Urbanisierungsprozess hat seinen Zenit erreicht und ist rückläufig, die Wirtschaft wächst zwar noch geringfügig, aber die Beschäftigung nimmt schon seit einiger Zeit stetig ab.“ , eine Zeitdiagnose von Philipp Oswalt, der ich mich weitestgehend anschließe. Die gegenwärtige stadtsoziologische Debatte spricht inzwischen von der schrumpfenden Stadt als einer neuen Normalsituation von Stadtentwicklung.

Doch kulturell handelt es sich dabei durchaus nicht um eine Normalsituation. In Ermangelung adäquater Formulierungen werden die damit verbundenen Phänomene vielmehr häufig als Krise beschrieben und gedeutet. Der Architekturkritiker Wolfgang Kil, ein genauer Beobachter dieser Prozesse in den neuen Bundesländern, plädiert im Umgang mit dieser Entwicklung dafür, Schrumpfung als natürlichen Prozess in einem größeren Szenario von einem ständigen Wechsel von Wachsen und Schrumpfen anzunehmen und sich möglichst auf einen schmerzarmen Übergang zu konzentrieren. Er plädiert vor allem dafür, im Schrumpfen und Ausdünnen bzw. Entdichten die Qualität des Weniger zu erkennen und die Verlangsamung, die damit einhergeht, als Wert anzuerkennen. Eine mutige und schwierige Aufgabe zugleich, der sich das Problem gegenüberstellt, dass ein damit notweniger Weise verbundener Rückbau von Infrastruktur, die in ihren Größendimensionen aus optimistischeren Wachstumszeiten stammt, nicht ohne weiteres möglich ist.
Von einer positiven Deutung der Prozesse des Schrumpfens sind wir demnach noch weit entfernt. Vielmehr hat das unübersehbare Schrumpfen von Städten und die Ausdünnung ländlicher Räume in den neuen Bundesländern zunächst erst einmal das Wachstumsdenken grundlegend irritiert und vielschichtige Ängste in Gang gesetzt – verständlicher Weise, denn ganze Städte aufzugeben oder „an die Natur“ zurückzugeben ist durchaus eine irritierende und für die dort lebenden Menschen eine existenzielle Frage. Zugleich werden hier gesellschaftliche Ängste vor Unordnung und sozialer wie territorialer Wildness aufgerufen, die durch landschaftliche Brachen ihre Materialisierung zu finden scheinen und, wie sich z.B. im Falle ehemaliger Truppenübungsplätze zeigt, auch nicht unberechtigt sind.
Bezieht man dies auf die vorherige Argumentation, dann bedeutet das, dass auch ländliche Räume und Kleinstädte, die über keinerlei Wachstumspotentiale verfügen, nicht ihrer Selbst überlassen werden können. Auch hier müssen Visionen über Nutzung oder ein gesellschaftlicher Konsens über das Brachliegenlassen von Landschaften ausgehandelt werden.

Die Reaktion, die sich derzeit auf die Unbeweglichkeit nationalstaatlich organisierter Politik beobachten lässt, ist die Initiative von unten. Es finden nämlich tatsächlich neue Aushandlungen darüber statt, was Natur ist und wie sich in Zukunft das Verhältnis von Kultur und Natur gestalten soll. Der Funktionsverlust großer Flächen wird zur Chance für Neugestaltung und nachhaltiges Wirtschaften. In einigen Zusammenhängen wird das Ende der DDR gar als Stunde Null für den Naturschutz angesehen. Deutlich wird in diesem Zusammenhang aber auch, dass diese Prozesse nicht aus sich heraus allein Bestand haben. Sie brauchen finanzielle Unterstützung und moderierende Kompetenz, die das große Ganze nicht aus den Augen verliert, auch wenn – oder gerade weil – es für das Managen solcher Prozesse keine Universallösungen gibt, sondern lokale und konkret eingebettete Politik die einzig mögliche ist.

Kurze Schlussfolgerung
In der dargestellten Perspektive folgen politische Ziele weniger einem abstrakten gesellschaftlichen Wertekonsens, sondern den konkreten Bedürfnissen einer lokalen Bevölkerung. Kulturarbeit kann m.E. an neuer gesellschaftlicher Relevanz gewinnen, wenn
(1) solche Aufgaben wie die Sicherung gesellschaftlicher Integration durch Vermittlung verschiedener, sich immer stärker ausdifferenzierender gesellschaftlicher Bereiche, Erfahrungen und Lebenssituationen explizit als politische Aufgabe verstanden wird, ebenso wie das Verhindern sozialer Abkopplungen.
Parallel dazu müssen innergesellschaftlich Debatten um bürgerliche Normen angestoßen werden, mit dem Ziel eines minimalen Konsenses in Bezug auf Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen sowie zivilgesellschaftliche Integration.

(2) Es wird Politik nur dann gelingen, auch gestaltend einzugreifen statt nur reaktiv zu handeln, wenn es auch gelingt, Felder mit Deutungsangeboten zu besetzen, auf denen bisher nur populistische Anbieter agieren: Fragen von Identität, Grenzziehungen und kultureller Differenz, sowie Themen mit klarem Alltagsbezug. Dazu braucht sie professionelle Instrumente, die ein ebenso flexibles Handeln erlauben wie das der Populisten und zugleich ein entsprechend breites UND tiefes Wissen. Dies könnte z.T. aus einer genaueren Beobachtung einzelner Akteure gewonnen werden, deren Ideen oder Handeln dabei Modellcharakter gewinnen könnten.