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Messmer, Dorothee

Ernst Thoma. Höllensturz

Einführungstext zur Publikation "Ernst Thoma. Höllensturz", Aust. Kat., Niggli Verlag Sulgen, 2006 Ein menschlicher Körper schwebt im Raum. Der Kopf fehlt. Langsam dreht er sich um die eigene Achse. Die Hände und Beine sind eingezogen. Sphärische Musik unterstreicht dieses Treiben im Nichts. Vergleiche an Unterseeaufnahmen, das lautlose Schweben von Walen, Seepferdchen oder Oktopusse werden wach. Nichts passiert. Ton. Und doch vermag die Inszenierung. Wird zum Wesen ganz eigener Art. Verletzlichkeit, Schutzlosigkeit. Anmut.
Ein zweiter Film zeigt zwei Körperfragmente, Torsi, die, nebeneinander frontal aufgenommen. Die Hände bewegen sich. Plötzlich scheint es, als beginnen die Hände zu sprechen, als entstünde eine Beziehung zwischen den beiden. Absurde Wahrnehmung. Menschliche Aktionen, aber von fremden Wesen wahrgenommen. aufgenommen in einem leeren, dreidimensionalen unendlich scheinenden Raum, kopflose Wesen einer neuen Spezies, die die Verletzlichkeit ihrer Leiber schutzlos unserem Blick ausgeliefert haben. Quallenartig, Wale, schwebend in einem unendlichen dunklen Raum wie in einem grossen Ozean, wie riesige Wale schwebend schwimmend in der zeitlosen Weite unseres Seins.
Anders als die Höllensturz-Bilder, die sich mit dem Irrgarten der Triebe im Internet auseinandersetzen, stehen die Körperfilme für einen ganz anderen Blick auf den menschlichen Leib. Erstere zeigen pornografische Körper, die, obgleich ihrer primären Geschlechtsmerkmale beraubt, als solche erkennbar bleiben. Ihre Haltung und Gestik ist uniform, ganz der heutigen Fitforfun-Ästhetik entsprechend. Sie präsentieren sich in gewohnter Weise, ganz unseren Vorstellungen von lustbereiten und -willigen Körpern entgegenkommend.
Die Körperdarstellungen von Thomas eigenem Körper wecken jedoch fast zärtliche Emotionen. Diese Wesen wirken verletzlich in ihrer scheinbaren Sprachlosigkeit. Dabei ist auch ein Körper ist ein sprechendes Wesen, das seine Bedürfnisse in Zeichen von sich gibt. Obwohl der Körper sozusagen sprachlos ist, stellen die Körperteile Hände, Finger, Lippen, kleine Instrumente dar, die streicheln, zeigen, deuten, schmunzeln, küssen, lachen und damit Nachrichten übermitteln, Bedürfnisse ansprechen oder Wünsche erfüllen. Im Wahrnehmen eines Körpers erkennt der Andere, daß irgend etwas mit ihm gerade geschehen soll oder als Konjunktion: geschehen könnte.
Gerade mit dem Möglichen operiert die Pornographie. Was möglich ist, teilt das Bild nicht mit, denn das Wesen Körper hat keine klare Sprache. Pornographie versucht Gefühle mehr oder weniger zu verheimlichen.

Ernst Thoma legt diese Mechanismen unserer Wahrnehmung durch Wegretuschieren, digitale Veränderungen des Bildinhaltes offen. Ausgangsmaterialien sind jeweils bestehende Bildinhalte, seien es Fotografien menschliche Körper oder bestimmte Landschaften. Unwichtig ist dabei, ob diese aus dem Netz stammen oder aus der Realität, der Umgebung des Künstlers, oder gar der Körper des Künstlers selbst. Erst durch die Umformung, durch digitales Umfärben von Bildelementen, durch perspektivische Verzerrungen und Überlagerungen gelingen Thoma Bildinhalte, die den Blick auf neue Wirklichkeiten, neue Wahrnehmungsfelder erschliessen.

Eine jahrelange Beschäftigung mit der digitalen Technik und eine grosse Erfahrung im Bereich der Bildbearbeitung machen diese Arbeitsweise möglich. Ernst Thoma, 1953 in Mühlehorn, Glarus geboren und heute in Stein am Rhein und Berlin lebend, ist nach einer künstlerischen und einer musikalischen Ausbildung seit vielen Jahren in den Bereichen der elektronischen Musik, des Sounddesigns und der Multimedia-Anwendungen tätig und arbeitet mit visuellen und auditiven Medien.
Seit einigen Jahren entstehen dank der neuen Möglichkeiten in der integralen Gestaltung verschiedener Medien mittels Computer wieder vermehrt audio-visuelle Arbeiten. Waren es anfänglich reine Video-Ton-Arbeiten, so verlagerte sich das Interesse immer mehr Richtung Bearbeitung und Reanimation von Standbildern. Dies führte schliesslich zu einer Synthese von Malerei und Video. Heute sind die Interaktivität von Bild und Ton und die Gestaltung von 3D Klangräumen ein wichtiger Bestandteil der Arbeit Ernst Thomas.
Früher Motiv der Landschaft, jetzt der Körper, Gang durch die traditionellen Themen der Kunstgeschichte. Wie in seinen Arbeiten der „Landscapes“, die idealtypische Landschaften in stetiger Veränderung zeigten, wird jetzt der menschliche Körper thematisiert. Auch er ein wichtiges klassisches Genre der Kunst. Gemälde in Verwandlung begriffen. Filmstills eines sich stetig verändernden Sturzes von Leibern oder die Betrachtung eines sich drehenden, windenden, im Cyberspace verlierenden Körpers. Ohne Kopf.
Paul Virilio beschreibt den 'postmodernen Körper' als einen passiven und bewegungslosen, der nicht müde wird sich Lebendigkeit mittels Überreizungen jeglicher Art zu versichern.

Der Kern der Arbeit ist denn auch – trotz aller Technik und der medialen Hilfsmittel, trotz der Manipulationen durch den Künstler – im Malerischen zu suchen. Ernst Thoma meint dazu: "Eigentlich ist es Malerei und das Video Mittel zum Zweck...". Formal und inhaltlich ganz in der Tradition der klassischen Tafelmalerei, der Fresken Giottos oder Michelangelos stehend, thematisiert der Künstler mit seinem Werk Fragen der Komposition, der Geste, des Gefühls und der Wahrnehmung und bewegt sich damit in den Bereichen, die traditionell der Malerei zugesprochen werden.
Trotz aller Veränderungen und digitaler Eingriffe bleibt die Bilder archetypisch. Der Künstler präsentiert uns den Körper als sinnlich fliessende Bilderwelt, die zwischen Realitätsnähe und Abstraktion auf uns eindringt. Dem Betrachter eröffnet sich so eine tiefe meditative Anschauung, deren Vielschichtigkeit und Inspiration weit über die Zeitlichkeit hinaus reicht.
Der menschliche Körper erscheint am Beginn des 21. Jahrhunderts als ein obsoleter, obszöner, androgyner oder als letzte Bastion vor der scheinbaren materiellen Auflösung in den Welten des Cyberspace. Trägt das neue Interesse am menschlichen Körper zu einer Sensibilisierung und Neubewertung des Körpers bei? Mit der Aufdeckung der Konstruiertheit des menschlichen Körpers, welcher als Apparat die verschiedensten Disziplinierungsmaßnahmen verinnerlicht hatte, um die Anforderungen, die an ihn herangetragen worden sind, irritationslos auszuführen, haben ihn seiner Unschuld beraubt. Jedoch besitzt er nach wie vor ein Potential an subversivem Verhalten, welches ihm davor bewahrt immer und überall verfügbar zu sein.
Adorno und Horkheimer haben das "Interesse am Körper" als ein todbringendes bezeichnet. Der Umgang des Menschen mit seinem Körper wird als ein gestörter beschrieben, da dieser mit seinen Körperteilen umgeht, als wären sie bereits Prothesen. Damit wird nicht nur das gestörte Verhältnis zur Natur aufgezeigt, sondern auch die Unumkehrbarkeit der Verwandlung des Körpers in den Leib.2


Er kodiert Erlebnisse, Erkenntnisse und Werte zu farbigen Flächen. "Diese Codes sind ist wie jener des Alphabets oder der Musik durch Generationen übermittelt worden. Der Künstler schwimmt in einer Geschichte. Er ist darum bemüht, in diesen allgemeinen, intersubjektiven Code das für ihn Spezifische (seine eigenen Erlebnisse usw.) zu fügen. Durch diese "Geräusche" wird der Code bereichert. Das ist sein Beitrag zur Geschichte", so Vilém Flusser in 'Der Schein des Materials" (1991) über die Aufgaben des Künstlers.

Dabei beschränkt sich der Akt nicht nur auf die Darstellung des menschlichen Körpers. Man taucht förmlich in die Bilder ein, die nicht die Außenwelt wiedergeben, sondern direkt aus dem Bildgedächtnis und der Einbildungskraft des Gehirns zu erwachsen scheinen. Der Künstler fokussiert aus dem Reservoir dieser Erinnerungen heraus, still und unspektakulär. Seine Haltung erinnert an die Bild-Auffassung Bill Violas, der dazu sagte: "I am interrested in (...) the image as artifact, or result, or imprint, or even wholly determined by some inner realization. It is the image of that inner state and as such must be considered completely accurate and realistic.

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