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Landert, Markus

Joseph Kosuth: Eine verstummte Bibliothek

Zur 1999 entstandenen Installation

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Joseph Kosuth, Eine verstummte Bibliothek, 1999 Fotografie: Stefan Rohner
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Joseph Kosuth, Eine verstummte Bibliothek, 1999 Fotografie: Stefan Rohner
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Joseph Kosuth, Eine verstummte Bibliothek, 1999 Fotografie. Stefan Rohner
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Joseph Kosuth in der verstummten Bibliothek Aufnahme: Kunstmuseum Thurgau, 1999
Nicht publizierte Interpretation der 2006 für das Kunstmuseum angekauften Arbeit. Für den ehemaligen Weinkeller der Kartause Ittingen entwickelte der amerikanische Konzeptkünstler Joseph Kosuth eine einzigartige Installation. Er liess einen riesigen Text auf den Boden des Ausstellungsraums schreiben. Wie ein Teppich breiten sich Buchstaben und Wörter auf hunderten von Quadratmetern Fläche im ansonsten leeren Raum aus, wodurch sich die Schönheit der Gewölbe voll entfalten kann. Seine Installation nennt Joseph Kosuth Eine verstummte Bibliothek.
Der auf den Boden geschriebene Text unterscheidet sich in seiner Benutzbarkeit nicht von anderen Texten. Er ist geschrieben, um gelesen zu werden. Also lesen wir und beginnen ganz hinten im Raum an dessen Stirnseite - wie bei einem Blatt oben links. Wir lesen: Series Classium; i. Biblici, hoc est, Sacrae Scripturae Textus et Interpretes pagina 1; 2. Patres tam Graeci quam Latini. Item Patrum Regulae Monasticae, et Synodi pag. 13; 3. Doctores Scholastici. pagina 20 ... . Kaum jemand wird entziffern können, was hier auf den Boden geschrieben steht. Zu fremd sind uns die altdeutsche Handschrift und die lateinische Sprache. Für die meisten Museumsbesucher erschliessen sich allenfalls bruchstückhaft einzelne Worte. Biblici, oder Doctores, dann noch Mathematici, Grammatici oder Manuscripti. Und wir erkennen beim Entziffern, dass es sich um eine Liste handeln muss: 1. Biblici... pagina 1; 2. Patres... pag. 13; 3. Doctores Scholastici... pagna 20; 4. Juresconsulti... pagina 33; 5. Antagonistae... pagina 41; 6. Devotionales ... pagina 63; 7. Sermonistae... p. 89: ... Wenngleich wir den Text nicht verstehen, so legt der Titel der Installation nahe, dass es sich um eine Auflistung von Bibliotheksbeständen handelt. Konkret zitiert Joseph Kosuth das Inhaltsverzeichnis des Katalogs der ehemaligen Klosterbibliothek von Ittingen. Dieser 1717 entstandene Katalog ist ein handgeschriebenes Buch, das sich heute in der Universitätsbibliothek Freiburg befindet. Er verzeichnet alle Bücher, die Anfang des 18.Jahrhunderts den Mönchen der Kartause Ittingen zur Verfügung standen. Ittingen besass im Verhältnis zu seiner Grösse eine reich bestückte Bibliothek. Neben Büchern mit religiösem Inhalt finden sich solche über Geschichte, Philosophie, dann auch solche zu naturwissenschaftlichen Themen oder zu Mathematik, Medizin und Poesie. Nach der Auflösung des Klosters wurden die Bücher 1852 nach Frauenfeld verbracht, wo sie teils verkauft, teils in die Kantonsbibliothek übernommen wurden.
Eine Bibliothek ist ein Sammelbecken von Bedeutung und Wissen. Jedes Buch formuliert Ideen und Gedanken. Jedes Buch bezieht sich auf Kontexte und stellt neue Kontexte her. Eine Bibliothek wird so zu einem kaum zu erschöpfenden Reservoir von Bedeutung und Wissen. Mit dem Zitat des Inhaltsverzeichnisses des Katalogs verweist Joseph Kosuth auf die ganze Bibliothek und damit auf die Gesamtheit des den Mönchen zur Verfügung stehenden Wissens. Der in Stein geschriebene Text erinnert wie ein Denkmal an den historischen Prozess der Auflösung des Klosters und der Bibliothek. Er rekonstruiert die Bibliothek an ihrem ursprünglichen Ort und verweist auf dessen wechselvolle Geschichte.
Der Text aber, auf dem wir uns bewegen, bleibt unlesbar. Diese Unlesbarkeit lässt den Verdacht keimen, dass das Entziffern des Textes nicht das Ziel der Installation ist. Wer die Auflistung lesen und verstehen will, findet denn auch schnell eine Umschrift und in der kleinen Publikation “Auch Bücher haben ihr Schicksal” von Marianne Luginbühl und Heinz Bothien sogar eine Übersetzung mit Kommentar. Hier sind zudem Informationen zur Geschichte der Klosterbibliothek zusammengefasst. Es ist offensichtlich: Um den Text lesbar zu machen und um seinen Inhalt zu vermitteln, hätte der Künstler diesen nicht als Faksimile in Stein schreiben lassen müssen.
Offensichtlich ist die Unlesbarkeit des Textes, die Verweigerung einer schnellen Sinnstiftung ein vom Künstler bewusst eingesetztes Instrument. Das Lesen ist durch die Inszenierung des Textes als riesiges Faksimile so stark gestört, dass der Prozess des Verstehens selber zum Thema wird. Dies beginnt bereits beim Entziffern der Buchstaben: Die Formen der Buchstaben sind kaum mehr als Zeichen erkennbar, einesteils, weil die altdeutsche Handschrift uns fremd geworden ist, andernteils, weil sich die Zeichen durch die Vergrösserung in nicht mehr signifikante Formenspiele aufzulösen beginnen. Ein grosses P oder ein D erinnert eher an ein arabisches Ornament als an einen Buchstaben. Eine 2 wird eher als eine schöne, freie Form wahrgenommen, denn als eine Zahl. Erschwerend kommt dazu, dass uns die Sprache fremd ist. Wer kann heute noch Latein? Und selbst wenn wir die Begriffe im Wörterbuch nachschlagen, enthüllt sich der Sinn der Auflistung nur in Ansätzen. Denn wer weiss mit dem Begriff Antagonisten, den “Gegenrednern” etwas anzufangen? Oder wer weiss noch, was die Doctores Scholastici, die scholastischen Gelehrten vertreten haben? Und was mag wohl im Bücherschrank mit den Medicinales, den Büchern zur Medizin an Wissen gesammelt gewesen sein? Was umschrieben Begriffe wie Medizin, Mathematik oder Geschichte vor dreihundert Jahren? So wie die einzelnen Zeichen und die Sprache uns nur noch einen Hauch ihrer Bedeutung übermitteln, so bleiben auch die Kontexte fremd, auf die sich die Begriffe beziehen. Wir erahnen den Reichtum an Bedeutung, auf den die Liste verweist, aber wir können ihn nicht erschliessen, weil die Zeichen sich nicht dechiffrieren lassen, die Sprache uns fremd ist und sich die Kontexte, auf die die Begriffe verweisen, nicht mehr zu unserer Alltagserfahrung gehören. Schmerzlich erfahren wir, dass die Bedeutung eines Textes sich erst erschliesst, wenn sowohl Zeichen, Sprache und Kontext deutlich genug definiert sind. Im Scheitern erkennen wir modellhaft die Elemente, die beim Entstehen von Bedeutung zusammenwirken.
Wir stehen also vor einem Text mit Leerstellen, einem offenen Text, dessen Bedeutung wir nicht mehr auszuschöpfen vermögen, obwohl die Liste für den Autoren wohl kaum geheimnisvoller war als für uns eine Einkaufsliste. An den Leerstellen kristallisiert sich das, was als Bedeutungswandel zu bezeichnen ist. Was wir nicht mehr verstehen, hat seine Bedeutung verloren. Je nach Stand des eigenen Wissens, das wir an den Text herantragen, erschliesst sich noch mehr oder weniger vom Bedeutungskosmos der Liste. Anhand der Leerstellen, dem Unverständlichen, erleben wir beispielhaft den Verlust von Bedeutung und das Fehlen eigenen Wissens. Der von Joseph Kosuth in den Stein geschriebene Text ist so nicht nur Denkmal für einen historischen Prozess sondern erinnert an einen Wertewechsel von epochalem Ausmass und an die damit verbundenen Bedeutungsverluste. An der Unlesbarkeit der Liste kristallisiert sich historischer Wandel als Bedeutungs- und Wertewandel. Während die Unversehrtheit der Gebäulichkeiten der Kartause uns immer wieder glauben lässt, dass die mönchische Lebensform an diesem Ort noch annähernd authentisch erlebbar sei, deckt die verstummte Bibliothek die Distanz zum mittelalterlichen, mönchischen Denk- und Glaubensgebäude schonungslos auf. Sie demonstriert Geschichte als eine Summe verloren gegangener Bedeutung.
Bedeutungsverlust erfahren wir als Provokation: Denn wir gehen in der Informationsgesellschaft davon aus, Wissen fast beliebig speichern zu können und mehr Wissen kumuliert zu haben denn jemals zuvor. An der verstummten Bibliothek bricht auf, dass jener Wertewandel, der die Informationsgesellschaft erst ermöglichte, verbunden war mit unumkehrbaren Bedeutungsverlusten. Unser Glaube an allumfassende Verfügbarkeit aller Information erweist sich als Irrglaube.
Was genau aber ist an Bedeutung verloren gegangen? Viele der Bücher der ehemaligen Klosterbibliothek werden noch immer in der heutigen Kantonsbibliothek aufbewahrt und können da studiert werden. Ebenso liessen sich die meisten verloren gegangenen Bücher wohl in anderen Bibliotheken wiederfinden. Verloren gegangen ist nicht die Information, sondern das Instrument, um diese zu erschliessen: die Ordnungsstruktur der Bibliothek. Konkret und banal: die Bücher wurden aus ihren mit Ordnungsbegriffen bezeichneten Gestellen genommen und auf einen Haufen geworfen. Ein ungeordneter Bücherhaufen taugt als Arbeitsinstrument nicht viel. Schon der Autor eines Leitfadens für Bibliothekare von 1777 hält fest: "Bey allem dem bleibet die Büchersammlung dennoch immer rudis indigestaque moles, ein unförmlicher lebloser Körper, wenn sie nicht durch vernünftige Ordnung gleichsam beseelet wird." Der Katalog ist das Ordnungsinstrument, das eine begriffliche Struktur festschreibt und jedem Buch einen eindeutigen Platz im Raum zuweist. Das von Joseph Kosuth verwendete Inhaltsverzeichnis des Katalogs spiegelt die in Ittingen benutzte Ordnungsstruktur. Diese Ordnung ist keineswegs neutral, sondern sie bestimmt Hierarchien und definiert Gefässe, die den Umfang möglichen Wissens bestimmt. Von der Gestaltung der angewandten Ordnung hängt es ab, was in einer Bibliothek Aufnahme findet, was an Informationen verwaltet werden kann. Die Ordnung der Bibliothek ist selbst ein Träger von Bedeutung und Werten. Schon ein oberflächlicher Vergleich mit dem Inhaltsverzeichnis des Katalogs der Thurgauischen Kantonsbibliothek von 1858 deckt die Wirkung der Ordnungsstruktur auf: Was bei der Ittinger Bibliothek mehrere Kapitel einnimmt, ist in der Kantonsbibliothek kurz unter der Rubrik Theologie zusammengefasst. Während Kapitelüberschriften wie Andachtsbücher, Gebetsbücher oder auch Rhetorik im neuen Katalog nicht mehr auftauchen, finden sich solche wie Naturwissenschaften, Technologie aber auch Künste und Pädagogik. Diese wenigen Begriffe illustrieren die Veränderung von Gewichtungen und Beziehungssetzungen. Die Bücher der Ittinger Bibliothek gingen nach ihrer Überführung nach Frauenfeld in dieser neuen Ordnungsstruktur auf. Es dauerte über ein Jahrhundert, bis die Klosterbestände neu katalogisiert und mit neuen Schlagworten versehen waren. Nicht primär die Informationen sind dabei verloren gegangen, sondern die Struktur ihrer Organisation. Die klösterliche Ordnung wurde ersetzt durch eine neue, weltliche Struktur und damit durch einen neuen Schlüssel, um die Informationen zu erschliessen. Dieser Ersatz der Organisationsstruktur führte letztlich zum Verstummen der Klosterbibliothek.
Die auf den Boden geschriebene Liste rekonstruiert die alte Ordnung als räumliches Ereignis. Wir können die zweiundzwanzig Wissensgefässe abschreiten. Jedes Wissensgebiet hat seinen Ort und die Nummerierung geleitet uns linear vom Anfang zum Ende. Das Wissen der Welt präsentiert sich als sinnlich erfahrbare, wohlgeordnete, auf ewig in den Stein geschriebene Struktur, auf der wir uns frei und gezielt bewegen können. Wie anders erleben wir die Struktur des Wissens bei der Suche nach Informationen im Internet. Vor dem Bildschirm sitzend fischen wir mit Hilfe von Suchmaschinen, deren Funktionieren ebenso unkontrollierbar scheint wie die Ordnungsdisziplin der Mönche, in einem formlosen Netz nach Informationen. Beim Abschreiten der monumental in Stein geschriebenen Ordnung der Vergangenheit lässt sich trefflich darüber spekulieren, welcher Bedeutungswandel und -verlust mit dieser neuen Ordnung des Wissens einher geht.

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