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Bänninger, Alex

Wer kreativ sein will, muss betteln

Die Fotografin Barbara Müller erhält den Adolf Dietrich-Förderpreis 2005

Rede anlässlich der Preisübergabe am 13. November 2005 im Kunstmuseum des Kantons Thurgau 1

Eine Jury, die eine Fotografin auszeichnet, ist im Bild, hat es genau getroffen und garantiert dem Entscheid die gute Aufnahme. Ich habe allen Grund, Barbara Müller mit Freude zum Preis der Thurgauischen Kunstgesellschaft zu gratulieren, zum Adolf-Dietrich-Förderpreis.

Er besteht aus 10'000 Franken, über welchen Betrag die Künstlerin frei – und hoffentlich auch steuerfrei - verfügen kann, aus einer monographischen Publikation und einer Ausstellung im Kunstmuseum des Kantons Thurgau. Die Ehrung wird zum elften Mal verliehen und geht zum ersten Mal ein zweites Mal in die gleiche Familie: nach Rahel Müller zehn Jahre später an ihre Schwester Barbara. Darum beginnt heute ein Familienfest, das Rahel am nächsten Samstag fortsetzt: auch mit einer Vernissage, aber als ältere Schwester nicht mit einer üblichen Solo-Vernissage, sondern mit einer unüblichen Trio-Vernissage neuer Malereien, neuer Buchzeichen und neuer Büchertüten, in welch Letztere wir den heutigen Anlass wohl gleich einpacken sollen. Natürlich nicht! Wir übersehen die etwas forciert demonstrierte Geschwisterliebe, loben die echte Familienfreundlichkeit des Adolf-Dietrich-Förderpreises und stellen klar: heute ist Barbara-Tag.

Der Preis zielt darauf ab, Barbara Müller ins Gespräch zu bringen, sie zu fördern, ihre Anerkennung zu mehren. Darum, liebe Gäste, verdanke ich Ihre Anwesenheit besonders herzlich. Denn Künstlerinnen und Künstler brauchen Orte des Beifalls und Räume der Resonanz.

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Dafür sind die Gelegenheiten viel zu selten. Es gilt, wie wir alle wissen, die Sparsamkeit auf jede erdenkliche Art und jede schwer vorstellbare Unart. In vielen Augen handelt es sich gar nicht um Sparsamkeit; es handelt sich um die tiefe Überzeugung, der Kunst genüge die Einfachheit des Holzbodens.

Was unsere Preisträgerin summa summarum und summa cum laude erhält, verdient ein internationaler Modefotograf in zwei, drei entbehrungsreichen Tagen an sonnigem Strand. Wer im Sport so gut ist wie Barbara Müller in der Fotografie, wird auf Händen getragen von einem Presenting Sponsor, einem Hauptsponsor und einem Sponsor, einer vom Verband bezahlten Cheftrainerin, einer Trainerin, einer Psychologin, mindestens noch einer Physiotherapeutin und sicher einem Mediensprecher, nach dem Wettkampf von einer Assistentin für die Thermodecke und dann sofort von der Medienschar, die mit den banalsten Antworten auf die dümmsten Fragen die längsten Huldigungen elaboriert. In der Kunst sind die Verhältnisse in der Regel etwas übersichtlicher. Dafür ist Barbara Müller an kein Firmenlogo gefesselt, heisst Barbara und muss sich nicht Leica, Minolta oder Agfa nennen.

Wir sehen in diesen Umständen bewundernd die „künstlerische Ungebundenheit“, in pathetischer Laune die „künstlerische Freiheit“, behaupten gleichmütig, Kunst sei durch Brotlosigkeit definiert, bezeichnen die Bittstellerei von Pontius zu Pilatus unzynisch als „Kulturförderung“ und das Warten auf die Antworten der Kulturinstanzen sachlich „notwendige Geduld“, in pathetischer Laune auch „Reifungsprozess“. Das alles wäre einer Rivella Müller oder Ragusa Müller erspart, weil sie nicht bestechend knipst, sondern bestechend flitzt. Sie hätte die sprudelnde, auf Dauer angelegte Förderung samt applaudierender Öffentlichkeit auf Sicher. Heute bekäme sie einen imposanten Pokal als Symbol des wohldotierten Füllhorns.

Die Vergleiche sind keine Kritik - bestimmt nicht im Thurgau mit seiner kulturfördernden Wärme und angesichts der Tatsache, dass Barbara Müller auch kantonale Beiträge erhalten hat.

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In den Vergleichen steckt bloss die Frage, ob wir auf die Leistungen und berechtigten Erwartungen der Begabten in allen Bereichen die gleich generösen und die gleich effizienten Antworten finden. Leider lässt sich nicht bestreiten, dass die kulturelle Förderung von ungleich schlechterer Qualität ist als die berufliche, wissenschaftliche und sportliche. Kulturförderung geschieht für die Einzelnen punktuell, dann und wann, ohne Kontinuität, reaktiv, von Fall zu Fall - in allen Bedeutungen von „Fall“ und „Fallen“.

Künstlerinnen und Künstler sind gezwungen, für jedes einzelne Projekt um die Finanzierung nachzusuchen, sich jedes Mal auf Herz und Nieren prüfen zu lassen und von Mal zu Mal wochen- und monatelang auf die Entscheide hin bangen zu müssen. Hängend zwischen Glück und Unglück. Das ist um so lähmender und entwürdigender, als an den Projekten auch die Sicherung der nackten Existenz hängt. Und erfährt die Nachbarschaft vom Glückslos mit der vier- oder fünfstelligen Gewinnsumme an die Künstlerin im zweiten Stock oder den Künstler von nebenan, sind erst noch Verwunderung, Neid und Missvergnügen geweckt. Ich bin zur Vermeidung solcher Nebenwirkungen dafür, Fördergelder nur als Brutto-Stundenlöhne zu publizieren.

In einer neoliberalen Optik können wir die Kulturschaffenden als kleine freie Unternehmerinnen und Unternehmer bezeichnen, die sich aus eigenem Entschluss dem Risiko des Gelingens und Scheiterns aussetzen. Wenn wir diese Logik akzeptieren, dann ist allerdings sofort beizufügen, dass sich die künstlerischen KMUs auf einem Fördermarkt bewegen, der sich der Berechenbarkeit restlos und der Beeinflussung weitgehend entzieht.

Das Fördersystem funktioniert aleatorisch, was schlicht und ergreifend zu übersetzen ist mit „eher zufällig“ und „tendenziell willkürlich“. Die Kulturschaffenden retten sich ins Gesetz der grossen Zahl. Das Gesetz besagt, dass sich die relative Häufigkeit eines Zufallsergebnisses immer weiter der theoretischen Wahrscheinlichkeit des Erwartungswertes nähert, je häufiger das Zufallsexperiment durchgeführt wird. Nochmals: das künstlerische Dauer-Zufallsexperiment verlangt, fünfzig Gesuche statt nur eines abzuschicken, besser sechzig oder siebzig, um die Erfolgschancen zu steigern. Das ist uns allen aus der Lotterie gut bekannt. Der bedrohliche Satz, „Wer zahlt, befiehlt“, wird schier harmlos im Schatten des Satzes, „Wer kreativ sein will, muss betteln“.

Der Filmschaffende Fredi Murer bringt es aus seiner Erfahrung auf den Punkt:

„Jedenfalls habe ich mit Gesuch-Stellen ähnliche Mühe wie der knorzige Kieliger von Bristen, der seinen Mist lieber auf dem eigenen Buckel in die Hänge hinaufträgt, als dass er ein Subventionsgesuch für eine Seilwinde schreibt.“ Und sarkastisch fügt Murer bei: „Im Zusammenhang mit Filmförderung hatte ich oft tatsächlich das Gefühl: Wer nicht schreiben kann, soll auch nicht filmen.“


Die Bettel-Methode erklärt sich aus dem unkritisch geheiligten Prinzip der geteilten Verantwortung. Alle fördern ein bisschen. Alle fühlen sich ein bisschen zuständig. Kaum jemand plant mit einer Künstlerin und einem Künstler die mittel- und längerfristigen Perspektiven. Dort, wo eine Ablehnung das ehrliche, kritische Gespräch erfordern würde, wird gerne mit höflichen Floskeln falscher Trost gespendet. Die so sinnvolle Koordination der Fördermöglichkeiten zwischen Staat, Privaten, Museen und Galerien findet nicht wirklich statt. Förderinstanzen pflegen ihre Autonomie bis zum Autismus. Vor allem zahlreiche private Förderstiftungen erinnern an die Sozialhilfe aus urältesten Tagen, als die Bedürftigen von Pfarrhaus zu Pfarrhaus zogen und entsprechend dem Kreuz oder dem Hahn auf dem nahen Kirchturm demütig katholisch oder demütig protestantisch um eine milde Gabe baten. Diese Tradition setzen manche kulturellen Förderstiftungen in säkularisierter Form bis heute fort. Sie beteiligen sich an Projekten mit Minisummen und zeigen nur ausnahmsweise den Mut zur Übernahme einer finanziellen Gesamtverantwortung. Aus den Pfarrhäusern sind die Giesskannen geworden und aus den Schäflein die Kulturschaffenden, aber am Prinzip der erbarmungsvollen Nächstenliebe hat sich wenig bis nichts geändert. Es wird vielerorts in bester Absicht gespendet, jedoch nicht mit höchster Kompetenz gefördert.

Die Frage ist begründet, die Thurgauische Kunstgesellschaft eingeschlossen, mich als Mitglied von Förderstiftungen inklusive: Muss das so sein? Muss das so bleiben?

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Wissenschaftliche Förderinstitutionen beispielsweise haben sich vom Zufallsprinzip längst entfernt. Sie definieren ihre Ziele glasklar, gestalten ihre Beziehungen zur Forschung systematisch proaktiv und tragen mit konzeptueller Präzision bei zu optimalen Rahmenbedingungen. Eine hohe Zahl von Gesuchen irritiert die guten Wissenschaftsstiftungen. Sie sehen darin keinen tollen Beleg für ihre Bekanntheit und Beliebtheit, sondern den ärgerlichen Beweis, ihre Förderkriterien unscharf kommuniziert zu haben. Die Wissenschaftsstiftungen sind geleitet von der Bedeutung der Wissenschaft und deshalb rational entschlossen, sie kontinuierlich und erfolgreich zu fördern.

Eine eminente Bedeutung für die Gesellschaft und ihre Zukunft besitzt auch die Kultur. Doch in ihrer Entfaltung und Mitwirkung wird sie durch eine traditionelle Förderung immer wieder behindert. Nach weit herum noch geltenden Gepflogenheiten wird kreatives Potenzial verschleudert. Es gibt kein Argument, weshalb wir uns dies leisten können. Die Kulturschaffenden sind in die Entwicklung unserer Gesellschaft und in die Gestaltung unserer Zukunft einzubeziehen. Als unverzichtbare, weil querdenkerische, machtskeptische und hoch interessante Ideen- und Impulsgeber.

In der Kulturförderung drängt sich ein Strategiewechsel auf: weniger Rührung und mehr Bewegung, weg vom Zufall und hin zur Berechenbarkeit, von der punktuellen Finanzhilfe zur Sicherung der Kontinuität, vom reaktiven Wohlwollen zum proaktiven Engagement. Die Kultur muss vom ewigen Rechtfertigungsdruck und von den Gesetzen der Lotterie erlöst werden.

Das Förderkonzept und die Leistungsvereinbarungen des Kantons Thurgau weisen die richtige Richtung. Dazu gehört auch, dass der Thurgauer Kulturpreis am vergangenen Dienstag nicht amtlich ächzend verliehen worden ist, sondern mit mediteraner Herzlichkeit im Rahmen eines obendrein exzellenten Programms. Das wirkte wie ein Versprechen und machte den Unterschied erlebbar zwischen einem Kreisel und einem Leuchtturm.

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Das Kulturschaffen wird aber nicht nur durch die traditionelle Förderung erschwert, sondern durch eine als modern etikettierte Förderung geradezu gefährdet. Ich spreche von der Instrumentalisierung. Sie ergibt sich nicht zwangsläufig durch das Sponsoring. Denn noch sind Sponsoren aktiv, die eine mäzenatische Grandeur pflegen, die Kultur respektieren und bei den Gegenleistungen alle Sensibilität beweisen. Zu dieser Kategorie gehört etwa das Berliner Kulturstipendium der Thurgauer Wirtschaft. Dort jedoch, wo das Sponsoring von einer Marketingabteilung rassig gesteuert wird, bleiben kultureller Sachverstand und kultivierter Anstand zu oft auf der Strecke. Kultur wird finanziert, sofern sie der kommerziellen Positionierung dient - oder brachial dafür hergerichtet und hingerichtet worden ist.

Diese exekutive Instrumentalisierung greift allmählich auch um sich bei staatlichen Förderinstitutionen, die Kultur nicht mehr um der Kultur willen unterstützen, sondern nur noch als Schafspelz zur Erreichung kulturfremder Ziele. Unsere kulturelle Aussenpolitik interessiert es zunehmend weniger, ob Kulturschaffende aus einem Aufenthalt in Berlin, London oder Paris kreativen Nutzen ziehen. Entscheidendes Kriterium wird, ob ein Stipendium, eine Installation oder eine Uraufführung hilft, auf dem diplomatischen Parkett Prestige zu sammeln.

Nicht mehr die künstlerische Qualität eines Theaters oder eines Films zählt, sondern ihre gesinnungsmässige Eignung, die aussenpolitische Agenda ins vorteilhafte Licht zu rücken. Es sind unheimliche Anfänge des Versuchs festzustellen, die Kultur als Schwungrad in die Propagandamaschinerie einzubauen. Aktuell droht wieder der Anspruch, dass jede Dichterlesung Logiernächte generiert, jede Vernissage den Finanzplatz stabilisiert und jeder Kammermusikabend den Uhrenexport optimiert. Unsere Kulturschaffenden mutieren zu Marketingassistenten der Schweiz AG.

Die besorgte Erinnerung geht zurück in jene Jahre, in denen es der Bund als richtig erachtete, Pro Helvetia zu gründen, um die kulturelle Auslandpräsenz staatsunabhängig zu gestalten.

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Staatskultur, Eventkultur, Imagekultur, Cocktailkultur, Beiläufigkeitskultur, Handelsbilanzdefizitausgleichskultur: die Zeit ist gekommen, wieder die Kulturkultur in den Mittelpunkt zu stellen und um ihren eigenen Erfolg willen zu fördern - mit den besten Kräften und aus reinster Absicht.

Die Dringlichkeit dieses Plädoyers hängt mit der bedauerlichen Tatsache zusammen, dass Kunst und Kultur auf eine nur schwache Lobby zählen können. Die wenigen Politikerinnen und Politiker, auch die wenigen im Kanton Thurgau, die den Wert der Kultur begriffen haben und ihre Entwicklung vorausschauend fördern möchten, finden sich als einsame Rufer in der Wüste oder abqualifiziert als Phantasten. Das lähmt den Elan. Aus dem Hinterwald weht ein rauher Wind. Wer Kultur Mist findet, weiss eben, was er an der Fussball-National-Elf hat und auch an der Ski-Nationalmannschaft.

Wir brauchen eine energische Kulturlobby. Mit dem Engagement für eine Kultur, die sich selber sein und sich selber genügen darf. Ohne Vereinnahmung. Ohne Dienstverpflichtung. Ohne diplomatische Mission.

Bleiben Sie also Barbara, liebe Barbara Müller, und trotzen Sie der Versuchung, jemals Minolta, Ragusa oder Eda gerufen zu werden. Adolf Dietrich steht Ihnen wenigstens für eine Weile bei.

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Für die sorgfältige Suche nach einer würdigen Preisträgerin danke ich der Jury: Claudia Greminger, Andrea Näf, Christine Schneider, Markus Landert und Richard Tisserand; der Jurysekretärin: Brigitte Mästinger; den Verantwortlichen für die überzeugende Publikation: der Redaktorin Christine Schneider, dem Autor Jörg Huber, dem Gestalter Kaspar Mühlemann, dem Drucker Christof Mühlemann.

Meine Anerkennung gilt dem Kunstmuseum des Kantons Thurgau für die umsichtig kuratierte Ausstellung. Die Kunstgesellschaft arbeitet gerne mit diesem Haus zusammen, freut sich, dass die Win-Win-Situation durch Ausstellungen sichtbar wird, und dankt Markus Landert, nicht nur als Konservator zu wirken, sondern auch als Mentor und Laudator.

Ich erwähne den Kanton Thurgau und mit ihm René Munz und Tanja Stenzl, weil ich dankbar bin für die in einem ermutigenden Geist gewährte finanzielle Mitbeteiligung. Fast wage ich nicht zu sagen, dass sie aus dem Lotteriefonds stammt.

Aus aktuellem Anlass benütze ich die Gelegenheit, dem Regierungsrat des Kantons Thurgau wärmstens zu danken für seinen fabelhaften Entscheid, uns markant zu unterstützen, um den fotografischen Nachlass Adolf Dietrichs wissenschaftlich aufarbeiten und in einer grossen Ausstellung hier im Kunstmuseum zeigen zu können.

Ihnen allen, verehrte Damen, verehrte Herren, ein herzlicher Dank fürs Feiern und die freudige Pflichterfüllung als Kulturlobbyisten. An Arbeit mangelt es nicht.

Früher war es eine Utopie, die Kulturförderung besser zu dotieren und in der Bundesverfassung und in kantonalen Gesetzen zu verankern. Das haben wir erreicht. Jetzt ist es eine Utopie, dass die Kulturkredite nicht gekürzt werden. Wir sollten uns von den Schrumpf-Utopien der Selbstbescheidung verabschieden und die Krämerseelen bitten, auf Visionen zu verzichten. Der Auftrag könnte klarer nicht sein – nicht klarer und nicht schöner.

Vielen Dank.

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